MIKKEL HINDHEDE
von 1862 – 1945
Mikkel Hindhede, Sohn eines Bauern in Jütland (Dänemark),
bestand in den 1880er Jahren sein Doktorexamen an der Universität Kopenhagen mit einer Auszeichnung, wie sie so ehrenvoll seit fast 50 Jahren nicht mehr erteilt worden war. Man setzte in akademischen Kreisen große Hoffnungen auf den jungen Arzt. Aber statt seine Fähigkeiten in den Dienst der Fakultät zu stellen, nahm er die Landarztstelle seines Heimatdorfes an. Etwas später wurde er als Leiter des neuen Skanderborg-Spitals berufen. Er nahm diese ehrenvolle Stelle zwar an, aber erfüllte die Aufgabe auf ungewöhnliche Weise, indem er selten Medikamente verabreichen ließ und nur ausnahmsweise operierte. Sein Verhalten rief bei manchen Kollegen Ärgernis hervor und zog ihm Vorwürfe zu. Aber er erwies sich als ein unbestechlich selbstständiger Kopf. Die Medikamentenrechnungen waren um 75 Prozent niedriger als anderswo und obwohl er bei Blinddarmentzündungen nie operierte, hat er dennoch in 17 Jahren keinen einzigen Fall verloren. Als die Ärzteschaft Dänemarks die Forderung erhob, er müsse zurücktreten, sagte er in seiner Verteidigungsrede: „Es scheint, dass es Ihnen besser gefallen hätte, wenn ich mein Spital so schlecht geführt hätte, dass viermal mehr Patienten gestorben wären“, und da seine sieben Ärzte keine Klage wider ihn hatten und das Krankenhaus besonders gute Ergebnisse aufweisen konnte, musste die Anklage fallen gelassen werden.
Mikkel Hindhedes Vater war ein prächtiger Kerl gewesen, einfach, selbstständig und charaktervoll. Er hatte nicht viel von Medikamenten gehalten und den Jungen schon früh gewarnt: „Bester Mikkel, du darfst nicht rauchen, du darfst nicht trinken, noch irgendwem bürgen“! Als Mikkel dann in der Physiologie-Vorlesung hörte, dass der Mensch einer täglichen Eiweißzufuhr von 118 g bedürfe, sagte er sich: dann habe ich ja bisher ganz ver-
kehrt gelebt. Die Kost, die mich mein Vater gelehrt hat, war ja gefährlich falsch. Wie ist es möglich, dass er, die Mutter und ich selbst dabei so zäh und gesund geworden sind. Ich will jetzt aber mehr Fleisch essen, dann werde ich stärker. Er aß fortan viel mehr Fleisch, wurde dabei seltsamerweise aber immer schlapper. Darauf hielt er es wieder wie vorher mit wenig Fleisch und nahm noch als Leiter des Krankenhauses in Skanderborg den Selbstversuch auf, um zu sehen, mit wie wenig Eiweiß der Mensch sich wohl und kräftig fühlen könne. Er machte den Versuch ganz für sich ohne alles Aufheben. Wie zu Hause hielt er sich dabei auch an die Nahrung der Jahreszeit und lebte zum Beispiel im Juni/Juli vorwiegend von neuen Kartoffeln, Milch und viel Erdbeeren. Dabei stellte er seine tägliche Eiweißzufuhr fest. Sie betrug rund 25 Gramm, weniger als ein Viertel von dem, was der Professor als Bedarf genannt hatte, und was, wie er nachschlug, sämtliche Kapazitäten verlangten.
Wie lange würde er das wohl aushalten können? Das war die Frage. Aber er machte sich darüber keine Sorgen. Das würde er schon rechtzeitig merken und - bevor das letzte Stündlein nahte - sein Leben mit einem Beefsteak retten. Gespannt beobachtete er sich. Wochen, Monate vergingen und er spürte nichts, fühlte sich sogar außergewöhnlich wohl, arbeitslustig und in Form. Seine Familie schloss sich der Kost an und blieb dabei.
Es lag darin zwar eine arge Entwertung von dem, was weltbekannte Autoritäten verkündeten: aber das kümmerte Hindhede nicht. Ihm ging es einfach um die Wahrheit. Das war typisch für ihn. Seine „Lehre“ blieb auch später für ihn eine Privatsache. Es ging ihm nie darum, „Anhänger“ zu gewinnen oder die gewonnenen Erkenntnisse den Kollegen aufzu-drängen. Erst dann schritt er zum Kampf, als er zur Verteidigung genötigt wurde. Seine Weltauffassung war einfach: unbedingte Wahrheitsliebe und unbestechlich selbstständiges Denken.
In einer seiner Arbeiten hatte er auch darauf hingewiesen, dass das bei der Viehfütterung erhaltene Eiweiß stark überschätzt werde und dass man die teuren, aus dem Ausland eingeführten Ölkuchen weitgehend durch einheimische Rüben ersetzen könne. Daraus entstand der so genannte Rübenstreit bei den Landwirten Dänemarks. Führende Bauern setzten sich für den Rübenbau ein und hatten damit so guten Erfolg, dass die ganze Landwirtschaft revolutioniert wurde. Das verschaffte ihm Zutrauen bei den Bauern und auf ihre Anregung hin entstand, trotz erbitterten Widerstandes der Ärzteschaft, ein aus öffentlichen Mitteln unterhaltenes Staatsinstitut für Ernährungsforschung, an dessen Spitze Hindhede berufen wurde. Dieser war nun ein bekannter Mann und sein Wort galt in weiten Kreisen.
Inzwischen waren die Ergebnisse Chittendens in Amerika erschienen, Ergebnisse von Versuchen an Menschen mit ökonomischer Eiweißzufuhr, welche Hindhedes Auffassung bestätigten, und dieser unternahm die bekannten Madsen-Versuche, welche zeigten, dass 32 g Kartoffel- und Vollkorn-Eiweiß im Tag voll ausreichten, um einen kräftigen jungen Mann während vieler Monate gesund und körperlich arbeitsfähig zu erhalten. Hindhede zog daraus den Schluss, nicht etwa dass nun alle Welt so eiweißknapp leben sollte, aber doch, dass rund 60 (statt 188) g Eiweiß auf die Dauer reichlich genügen, so wie es sich bei ihm und seiner Familie seit langem bewährte. Seine Ergebnisse wurden nun von einzelnen Autoritäten wie Prof. Abderhalden in Halle, später Zürich, und Prof. Tigerstedt in Helsingfors anerkannt und Berichte darüber im angesehenen „Skandinavischen Archiv für Physiologie“ aufgenommen.
Als nun im Ersten Weltkrieg die Nahrung knapp und zu Beginn des Jahres 1917 gar noch von den Alliierten die Blockade über Europa verhängt wurde, fiel der Schlag für Dänemark besonders hart aus. Landwirtschaft war Haupterwerb dieses Landes. Sie gehörte zu den fortgeschrittensten, am meisten industrialisierten des Kontinents. Schweinespeck und Kochbutter - Hauptausfuhrprodukte - wurden hauptsächlich mit eingeführten Futtermitteln - Mais, Roggen und vor allem Ölkuchen - erzeugt und die Versorgung damit sank nun auf einmal auf 30 %. In der Schweiz kam es damals zu argen Hungerzeiten, Krankheiten, entsetzlicher Grippeepidemie und sozialen Unruhen.
Im eilig bestellten Haushaltsausschuss Dänemarks wurde Hindhede zum Vorsitzenden bestellt. Seit Jahrzehnten hatte er ja seine Forscheraufmerksamkeit der unteren Grenze des Nahrungsbedarfs zugewandt, so dass er den erlösenden Plan zur Abwendung einer Hungersnot, wie sie im angrenzenden Deutschland in fürchterlichem Ausmaß folgte, sozusagen aus der Tasche ziehen konnte, und da er die Landwirte zu Freunden und Prof. Möllgaard zum überzeugten Beistand hatte, mit einmütigem Beschluss durchzusetzen vermochte. Der Plan erwies sich als so trefflich, dass die Welt staunte.
Menschen oder Schweine - eines von beiden muss verhungern, erklärte Hindhede. 80 % der vorhandenen Schweine wurden zu hohen Preisen an Deutschland und Großbritannien verkauft, wo Fachwelt und Öffentlichkeit noch fraglos an den hohen Eiweißbedarf glaubend, über den unverhofften Zuschuss frohlockten. Die Zahl der Milchkühe wurde auf zwei Drittel vermindert, das Bierbrauen halbiert und das Schnapsbrennen gänzlich abgestellt (um Korn und Kartoffeln für die Menschen zu erhalten). Hindhede sorgte für die allgemeine Einführung von Vollkornbrot in Gestalt von großen, derben, flachen, mürben Fladen. Gemüse- und Obstbau wurde eifrig gefördert und die Bereitwilligkeit des Volkes mit einer kleinen Druckschrift gewonnen. Obwohl die Butterration mit einem halben Kilo pro Woche auf die Hälfte des bisherigen Verbrauchs und die Fleischration auf 40 Gramm pro Tag herabgesetzt wurde, kam es weder zu Schwarzhandel noch Unzufriedenheit. Aber - und das ist das Bemerkenswerteste - die Reichen erhielten zwar ohne weiteres mehr Butter und Fleisch, ja auch Weißbrot und Brötchen, nur sehr viel teurer, aber billig und reichlich genug erhielt jedermann Kartoffeln, Gerstengrütze und Vollkornbrot sowie Frischmilch wie bisher. Das dunkle Fladenbrot war so gut, dass sich männiglich nach 1 - 2 Wochen gern daran gewöhnte. Das alles gelang ohne Schwierigkeiten, Warteschlangen noch Hamstern. Die Milch wurde sogar besser befunden. Kein Wunder: die Kühe lebten ja nun von natürlichem Grasfutter. Die ganze, vorher der Schweinemast vorbehaltene Kleie diente jetzt direkt der Ernährung. Dass Kleie unverdaulich sei glaubte zwar noch die ganze Welt; aber bereits damals und später widerlegten Wiegner, Johansson und Heupke diesen Irrtum. Sie bewiesen, dass Kleie
ebenso vollständig ausgenutzt wird wie feinstes Weißmehl, nur langsamer, was ein Vorzug sei und dass Kleie die meisten Mineralstoffe und fast alle Vitamine und die hochwertigen Ei-weißarten des Kornes enthält.*)
Hindhede hatte durch seine Versuche an Menschen - an sich und Madsen, nicht an Tieren! - überzeugend bewiesen, dass der Mensch zur Deckung seines Eiweißbedarfes weder Fleisch, noch Eier, noch Käse, ja sogar nicht einmal Milch sich zuführen muss und die Schlussfolgerung gezogen: „Du brauchst die Eiweißfrage nicht zu stellen. Von diesem Stoff bekommt man (unter Friedensverhältnissen) stets genügend, es handelt sich eher darum, nicht zu viel davon einzunehmen“.
Man bedenke, wie weise sein Noternährungsplan ausgedacht war: es fiel ihm nicht ein, den Leuten, die in seinen Versuchen gefundenen und bewährten Minimalmengen zuzumuten. Er reduzierte nur so weit nötig, ließ den Reichen ihre Unvernunft und verbilligte dafür die gesunden Nahrungsmittel reichlich!
*) Vier Jahrzehnte später erfolgte dann die Neu-„Entdeckung des hohen Gesundheitswertes der Kleie“ wegen ihres Zellulosegehaltes und ihres heilsamen Einflusses auf die Verdauung! Aber schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Hindhede nachgewiesen, dass die verschwendenscherweise als Viehfutter verwendete Kleie „eines unserer allerwertvollsten Nahrungsmittel ist, dass sie vom Menschen ebensogut verdaut wird wie vom Haustier und dass die moderne Methode, sie vom Korn zu scheiden, deshalb ganz verwerflich ist“ - jetzt gesichertes Wissen.
Bei alledem ist zu bemerken, dass Hindhede immer ein außerordentlich
bescheidener Mensch blieb, der nicht darauf ausging, eine „Schule“ zu gründen, sondern nur der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Das Erstaunlichste aber kam unerwartet: Hindhede riss für sein Land dem Grippe-Unge-heuer, das gegen Ende des Ersten Weltkrieges Europa und zumal Dänemarks Nachbarländer überfiel und im Jahre 1918 mehr Opfer verschlang als der Krieg, sozusagen den Sta-chel aus. Seine Ernährungsordnung beschwor nicht nur Hunger, Teuerung und soziale Unrast, sondern auch den Schrecken der Grippeepidemie. Weit und breit war Dänemark damals das einzige Land, dessen Sterblichkeit in normalen Grenzen blieb. Die einzig mögliche Erklärung für dieses Phänomen, das wie ein Wunder erschien, besteht darin, dass dieses Vorgehen die natürliche Abwehrkraft der Bevölkerung mobilisierte durch zwar genügende, aber knappe Nahrung, reich an Schutzstoffen, arm an tierischem Eiweiß, Zucker- und Weiß-mehlspeisen, das hatte u.a. eine besonders gesunde Darmfunktion ohne Eiweißfäulnis zur Folge.
Nach dem Krieg aber geschah Merkwürdiges: die Welt vergaß, verdrängte das Rationierungswunder von Dänemark und die große Leistung Hindhedes. Es zog ein böser Geist auf. Aus dunklen Gründen suchte eine Kopenhagener Dozentin, Frau Dr. med. J. Christiansen, Hindhedes Ansehen zu schwärzen. In Fachblättern und Presse und bei Vorträgen, die sie auch nach Deutschland und in die Schweiz führten, behauptete sie, das sei alles Lug und Trug gewesen. Die Dinge hätten sich ganz anders zugetragen, und was sie sagte, wurde von interessierten Kreisen eifrig verbreitet. Dabei stellte sie viele Tatsachen rundweg auf den Kopf. Nach einem dieser Vorträge schrieb z. B. der Leiter des Schweizer Bauernsekretariats in der Schweizer Presse, als der Zweite Weltkrieg mit ähnlichen Nöten drohte, vom „Hindhede-Schwindel“, und schloss den Bericht mit den Worten: „Auch in unserem Lande gibt es Ernährungsreformer, die hauptsächlich zu geschäftlichen Zwecken den Genuss tierischer Nahrungsmittel bekämpfen und das Schweizer Volk zu einer vegetarischen Kost auf landesfremder Basis... verführen wollen“. Dabei war die Christiansen schon am 29. Juni 1934, also vier Jahre vorher, vom Kopenhagener Oberschiedsgericht wegen ihrer unrichtigen Behauptungen verurteilt worden – „alles, was sie in Bezug auf Dr. Hindhede und die dänische Regierung gesagt und geschrieben hatte, war unberechtigt. Sie wurde darauf sogar von der dänischen Ärztegesellschaft ausgeschlossen, und der dänische Reichstag verlieh Hindhede einstimmig eine Ehrenrente als dem geistigen Vater und Organisator der Kriegsversorgung. Die britische Ärztezeitung „Lancet“ (Februar 1938) bestätigte aufgrund statistischer Untersuchungen den Rückgang der Sterblichkeit in Dänemark von 1916 auf 1917 um 34% als Folge von Hindhedes Versorungslenkung und das Ausbleiben eines Steigens der Todesfälle über das Niveau von 1916 zur Zeit der hochvirulenten Grippewelle von 1918.
Bircher-Benner gelang es dann, die Eidg. Kriegsernährungs-Kommission genügend darauf aufmerksam zu machen, und deren Präsident, Prof Dr. med. A. Fleisch (Lausanne) setzte in der Planung und Durchführung der schweizerischen Rationierungszeit (1939 bis 1946) gegen größte Widerstände ähnliche Maßnahmen mit ausgezeichnetem Erfolg durch.**) Aber auch das ist in der Folge „verdrängt“ worden und heute von Fachwelt und Öffentlichkeit so gut wie vergessen.
Bei alledem ist zu bemerken, dass Hindhede immer ein außerordentlich bescheidener Mensch blieb, der nicht darauf ausging, eine „Schule“ zu gründen, sondern nur der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Aber ist es nicht traurig, unbegreiflich, unverzeihlich, dass dieser Einzigartige heute glattweg totgeschwiegen wird. Man findet weder im Brockhaus-Lexikon noch in der Encyclopedia Britannica noch in Fachlehrbüchern, soweit sie mir bekannt sind - auch nur ein Wort über ihn, seine Forschungen und Leistungen. Man hat ihn ganz und gar ins „Geheimarchiv der Ernährungslehre“ versenkt.
Muss wohl wieder eine große Ernährungsnot über uns kommen, bis man sich an Hindhedes Leistung erinnert? Und wie anders, wie viel segensreicher wäre z. B. die Entwicklungshilfe an der „Dritten Welt“ ausgefallen, wenn man Hindhedes Werk nicht verstoßen und verdrängt hätte!