Das schwere Leben der Arbeiterfrau Johanna Faust
Unermüdlich in den trostlosen Slums
mit tätiger Liebe
Heute erinnert nichts mehr an die selbstgebauten Lehmhütten und
Bretterbuden, die zugewanderte Arbeitslose und verelendete Arbeiter
mit ihren Familien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am
Stadtrand von Elberfeld errichtet hatten.
Das völlig verarmte Volk, das da in Schmutz und Elend hauste, konnte die Mieten in der explosionsartig wachsenden Industriestadt
nicht mehr bezahlen. Innerhalb von 40 Jahren hatte sich die Bevölkerung
von Elberfeld, einer der ältesten und größten Industriestädte Deutschlands, verdreifacht. Heute ist Elberfeld ein Teil Wuppertals.
Mit der Erfindung der Spinnmaschine und des mechanischen
Webstuhls hatte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts im Textil-
gewerbe eine unglaubliche Revolution vollzogen. Durch den Einsatz der Dampfmaschine konnte die industrielle Produktion in ungeahntem Ausmaß gesteigert werden.
Das zog unzählige Arbeiter aus weiten Teilen Deutschlands an. Sie strömten zu den neuen Fabriken, wo sie oft unter schwer gesundheitsschädigenden Bedingungen stumpfsinnige und schlecht bezahlte Arbeit leisten mussten. Um nur die Familie ernähren zu können,
mussten auch Frauen und Kinder mitverdienen, oft bis zu 14 Stunden
am Tag. Das war der Boden, auf dem ein unversöhnlicher Klassenkampf wuchs.
In diese gärenden revolutionären Umbrüche hinein kam Friedrich Engels, ein Fabrikantensohn aus dem benachbarten Barmen. Zusammen mit Karl Marx schuf er das kommunistische Manifest.
Fast zur gleichen Zeit aber wirkte Johanna Faust, eine arme Fabrikarbeiterin, mitten in dem unvorstellbaren sozialen Elend, allerdings
auf ganz andere Weise. Während Engels als kluger Agitator und genialer Denker die
Weltanschauung des Sozialismus entwickelte, war Johanna Faust ganz schlicht eine Frau der praktischen Tat. Und wenn Engels als der
geistige Führer der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung immer auch noch der wohlhabende Unternehmersohn blieb, sich schöne Reitpferde hielt und gerne an Fuchsjagden in edler Gesellschaft
teilnahm, war Johanna Faust seit ihrem zwölften Lebensjahr nichts als ein einfaches Fabrikmädchen mit einem zehnstündigen
Arbeitstag gewesen. Ihr Vater hatte als Weber die sechsköpfige Familie nur notdürftig ernähren können. Später hat sie das nie bereut. So konnte sie die Not und Gefährdung dieser jungen Mädchen viel besser
verstehen. Ein Leben lang ist Johanna Faust eine einfache Frau geblieben. So hat sie sich gekleidet, so war ihre Art. Sie hielt sich herunter
zu den niedrigen Leuten. 1825 war sie in Elberfeld geboren.
Ihre Mutter konnte weder lesen noch schreiben und gab dies auch bei der Verheiratung ihrer Tochter Johanna mit dem alkoholabhängigen
Fabrikarbeiter Friedrich Wilhelm Faust zu Protokoll. Die Unterschrift von Johanna Faust unter der Heiratsurkunde ist das einzige heute erhaltene Schriftstück, das bezeugt, dass Johanna Faust selbst schreiben konnte.
Sie erzählte später: Ach, ich ahnte nicht, was für ein Kreuz ich mit dem Ehestand auf mich nahm. An keinem Tag war ich meines Lebens sicher, und wenn mein armer Mann in trunkenem Zustand nach Hause
kam, dann wurmte es mich doch zuweilen, wenn die Leute sagten: Die Hanna Faust sollte sich lieber ihres armen Mannes annehmen, als an andern so viel zu tun.
Einige Jahre nach der Heirat gaben die beiden Eheleute Faust ihre Fabrikarbeit auf und begannen einen Hausierhandel. Es lief
darauf hinaus, dass Hanna Faust mit ihrem Kaffeehandel an den Glastüren ihren alkoholsüchtigen Mann ernähren und seine Zechschulden begleichen musste.
Alkoholsucht war damals im sozialen Elend dieser rasch wachsenden Industriestädte weit verbreitet und trieb die verzweifelten
Armen immer tiefer in Abhängigkeit, Krankheit und Kriminalität.
Eltern gaben ihren Kindern schon früh billigen Schnaps als Beruhigungsmittel. Auf etwa 140 Einwohner Elberfelds kam damals eine
Kneipe.
Hanna Faust ahnte, was auf sie in dieser Ehe zukommen würde. Sie wollte aber ihren Mann vor dem Sturz in den Abgrund retten. Dabei war Wilhelm Faust, wenn er nicht trank, liebenswürdig und freundlich. Betrunken aber war er völlig enthemmt, konnte die hässlichsten Fluchworte ausstoßen und wild herumtoben.
Manchmal blieb er auch tagelang von zu Hause fort. In diesen schlaflosen Nächten betete Hanna Faust in großer Angst um ihren
aggressiven Mann. Wie wurde sie gedemütigt und was hat sie ausgehalten, wenn sie dann später von ihrem sauer verdienten Geld seine
Zechschulden bezahlen musste. Dabei hat sie aber auch jene schrecklichen Stätten der abgrundtiefen Dunkelheit kennen gelernt und Mitleid bekommen mit allen, die vom Teufel gebunden und geknechtet
sind.
Warum hat mich der Herr diesen dunklen Weg geführt?, fragte Johanna Faust nach 31 Jahren Ehe. Doch sie konnte selbst jene verrufenen Quartiere aufsuchen, wo sich die Polizei nicht hineinwagte. Und es war ihre große Freude, dass auch nach viel Gebet sich ihr Jesus auch bei ihrem Mann als der Stärkere erwies, auch wenn er bis zum Tod nicht von seiner Sucht frei wurde. Wilhelm Faust starb im Jahr 1888 im Frieden mit Gott.
Auch ein lediger Verwandter namens Abraham, den sie ins Haus aufgenommen hatte, machte ihr mit seiner verdrießlichen und griesgrämigen Art viel Not. Hanna Faust bemühte sich, ihm mit viel Geduld und Liebe zu begegnen. Einmal sah sie Abraham weinen.
Was fehlt dir?, fragte sie ihn. Der antwortete bloß: Frauenmensch, deine Liebe hat mich kaputtgemacht!
Trotz der großen Belastung daheim litt Hanna Faust auch am schweren Los anderer Menschen mit. Als sie die unbeschreibliche
Not im Elendstal sah, entschloss sie sich spontan, dort zu helfen. Skeptisch und misstrauisch wurde jedoch zunächst jede angebotene Hilfe abgelehnt. Deshalb wandte sich Hanna Faust den ausgehungerten,
zerlumpten Kindern zu. Sie brachte ihnen etwas zum Essen mit und erzählte auch biblische Geschichten. Bei gutem Wetter ging das im Freien. Aber wie sollte es im kalten Winter weitergehen?
Hanna Faust bereitete das schlaflose Nächte. Sie veraahm von Gott den klaren Auftrag, etwas zu bauen. Ihr Einwand, sie hatte keinen
Pfennig, brachte ihr aber keine Ruhe. Immer wieder stand der
Befehl vor ihr: Fang du an, so will ich meinen Namen dort groß machen. Darauf betete Hanna Faust: Herr, willst du deinen Namen dort groß machen, so musst du meinen Namen klein machen. Du weißt, wie es mit uns Menschen ist, dass wir uns gern etwas einbilden.
Unerschrocken ging sie jetzt auf Gemeindeglieder zu und bat
um Spenden. So entstand schon bald die Elendstaler Kapelle, ein einfaches, langgestrecktes Holzhaus. Dort fanden das Freundesfest und das Volksfest, aber auch das Armenfest statt. Viele Kinder strömten zum Kindermissionsfest zusammen.
Als Johanna Faust hörte, dass einige Kinder nicht mehr kommen wollten, weil sie sich mit ihren Holzschuhen genierten, griff sie
auf ihre originelle Weise ein. Mit lautem Geklapper kam sie jetzt selbst die Treppen herunter in Blotschen, wie man diese Holzschuhe
nannte. Was ist das?, rief sie. Da ist nichts zu beben. Meint ihr, ich geniere mich, Holzschuhe anzuziehen?'Und dann wies sie die Kinder darauf hin, wie Jesus nur auf das Herz schaue und frage: Hast du mich lieb?
Am dringlichsten sah Hanna Faust aber die Hilfe für die Armen, die unter unvorstellbarer Wohnungsnot, Krankheit und
Arbeitslosigkeit litten. Dabei stellte sie nie die peinliche Frage, warum jemand in diese Notlage gekommen war. Sie half einfach mit Brot, Gemüse, Kartoffeln oder mit Kleidungsstücken, die sie in den wohlhabenden Bürgerhäusern erhalten hatte. Sie empfand die schnell wechselnde Mode als ein besonderes Geschenk, da sie ihr immer wieder gut erhaltene Kleidungsstücke bescherte.
Ihr kleines Wohnhäuschen sah oft wie ein riesiges Warenlager aus, auch wenn sie in ihrer liebevollen, mitfühlenden Art rasch im
Weitergeben war. Für sie war Nothilfe einfach Dank für Gottes Liebe, die sie selbst so oft erfahren hatte.
Unzählige Hilfswerke und drakonische Dienste hat Johanna
Faust, von den Kindern nur Tante Hanna genannt, ins Leben gerufen.
Schon im Alter von 19 Jahren gründete sie die erste Sonntagsschule.
Sie war entscheidend beteiligt bei der Gründung der ersten
Jünglingsvereine, wie man damals die spätere evangelische Jugendarbeit des CVJM nannte. Auch für die bekannte Evangelistenschule,
das Johanneum, setzte sie sich zeidebens ein. In ihrem kleinen Häuschen
traf sich die Versammlung für Frauen und Jungfrauen. Enge Verbindung hielt sie auch mit der großen Arbeit der Rheinischen Missionsgesellschaft
in Barmen. Noch vor ihrem Tod stellte sie der Evangelischen Gesellschaft; für Deutschland, die sich der Evangelisation verpflichtet hatte, ein Grundstück zum Bau eines Vereinshauses
zur Verfügung. Johanna Faust war keine Einzelkämpferin, sondern arbeitete eng mit allen sozial tatkräftigen und eindeutig evangelisierenden christlichen Gruppen, Gemeinschaften, Vereinen und Kirchengemeinden zusammen. Durch ihre Besuche im Frauengefängnis wusste sie um die Gefährdung der vielen Dienstmädchen, die von gewissenlosen Betrügern ausgenutzt wurden. Sie schloss sich früh
dem Damenverein an, der sich dem Kampf gegen die Prostitution in
Elberfeld verschrieben hatte, wo es allein 24 Bordelle gab.
Als 1859 eine große Cholera-Epidemie ausbrach, war Johanna
Faust rasdos unterwegs, um den Kranken beizustehen. Sie konnte selbst zwei Nächte hintereinander ohne Schlaf auskommen, um bei Sterbenden zu wachen. Auf wunderbare Weise wurde sie selbst vor Ansteckung bewahrt.
Johanna Faust erkannte ihren Beruf in dem von Christus vorgewiesenen Weg des fröhlichen Dienens. Ihrem Herrn wollte sie danken für die unendliche Liebe, die sie selbst in ihrem unbedeutenden und kümmerlichen Leben von ihm empfing. So wurde sie eine Lastträgerin, erbarmend und voll Sanftmut und Geduld. Sie hatte keine großen humanistischen Leitbilder oder
revolutionäre soziale Ideen. Ihr Jesus befähigte sie zu diesem schlichten Dienst der Liebe auch in ganz schwierigen Belastungen. Noch
mehr als um das Elend der Armen sorgte sie sich um deren ewiges Heil. Sie war ja selbst durch die Gnade von Jesus gerettet worden.
Die Stadt Elberfeld würdigte ihre vielfältigen Dienste, indem sie Frau Faust jeweils zu Neujahr ein kostenloses Abonnement für die
Straßenbahn schenkte. Das war eine große Hilfe für sie, wenn sie
vollgepackt unterwegs war. Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden, das war ihre Losung in über 50 Jahren tätiger Liebe, in denen sie so gut wie nie Elberfeld verlassen hat.
Am 16. Dezember 1903 ging sie nach kurzer Krankheit im Alter
von 78 Jahren heim. Pastor Heinrich Niemöller sagte in seiner Beerdigungspredigt:
Wo Männer bangten, da war ihr Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat. Das hat der Herr getan. Ihm sei die Ehre! Und welch ein Feuer der Liebe hat der Geist Gottes in ihr angezündet! Ihr Glauben und ihre Liebe wurzelten in einer unverfälschten Demut, mit der sich eine große Weisheit verband. Wie bereitwillig trat sie stets zurück. Dass
nur des Heilands Ehre gemehrt, dass nur sein Reich gebaut werde. Der Herr hat sie auch gesegnet durch das Kreuz. Sie hat manchen dornenvollen Weg gehen müssen. Sie kannte das finstere Tal. Aber das Kreuz trieb sie an des Heilands Herz.
Das eigene Kreuz machte sie tüchtig, fremdes Kreuz zu verstehen und mitzutragen.