Der brennende Dornbusch

An meinem Hause hat ein Künstler in Keramik Mose vor dem brennenden Dornbusch dargestellt. Dies Motiv hat einen wirklichkeitsechten Bezug zu meinem Leben. Wie ist das zu verstehen?

In meinen Kinderjahren durfte ich, wenn ich artig war, zu meiner Oma ins Bett kriechen. Mein Wunsch war immer derselbe: Oma. erzähl mir eine Geschichte. Niemand konnte so gut Geschichten erzählen wie meine Oma. Sie waren so un­mittelbar und so mit dem Herzen erzählt, daß ich mit hinein­genommen wurde und sie mir unvergessen sind.

An einem Morgen erzählte sie mir die Geschichte von dem brennenden Dornbusch bei Mose. Dieser brennende Busch wurde für Mose die Begegnung mit seinem Gott. Als ich am Nachmittag die Kühe hütete und in der Viehweide auch ein Dornbusch war, kam die Frage, weil mir Erdkunde noch unbekannt war und die Erkenntnis der Welt nur im Augenmaß lag, ob das vielleicht der Dornbusch bei Mose gewesen sein könnte. Stundenlang habe ich gebetet: „Herr, laß den Dorn­busch wieder brennen, rede mit mir, ich möchte deine Stimme hören.“ Hat Gott dies Gebet erhört? Ich meine ja, aber in anderer Weise, als ich es mir vorstellte. Gottes Uhr geht anders als unsere Uhr. Saatgut Gottes kann lange liegen, bis es auf­geht und sich erfüllt.
Der sterbende Kamerad
Als ich im Kriege einmal mit einem sterbenden Kameraden ein „Vater unser“ beten wollte, sagte er mir: „Das kann ich nicht, ich durfte nicht in den Konfirmandenunterricht.“ So nahm ich seine Hände und betete allein. Aber dann blickte er mich plötzlich an und sagte: „Ein Gebet kann ich doch, das hat meine Oma mich gelehrt.“ Ich sagte: „Komm, bete es.“ Es war, wie ich später erfuhr, ein Gebet von Zinzendorf, das ihm die Brücke über die letzte Grenze wurde:

„Ich bin ein kleines Kindelein, und meine Kraft ist schwach.
Ich möchte gerne selig sein, ich weiß nicht, wie ich’s mach.
Ach, lieber Heiland, lehre du, wie ich es fange an,
daß ich die Sünden von mir tu und selig sterben kann.“

Als ich ihm die Augen zudrückte, mußte ich denken: „Kein Wort der Kirche hat dich erreicht, aber das Gebet, das deine Oma dich gelehrt, wurde Frucht in deinem Sterben.“ Welch eine wichtige Aufgabe in unserer angefochtenen Stunde für alle Großeltern.

Und hat der Dornbusch gebrannt? Nun, nach dem ersten Weltkrieg begann eine Erweckung in meinem Heimatdorf. Junge Menschen waren in ihrer Lebensfrage angesprochen und sammelten sich um die Bibel. Ihr Zeugnis von der Verän­derung ihres Lebens durch Christus machte auch mich unru­hig, aber bewirkte zunächst nur Ablehnung und Widerstand. Eines Tages wurde ein Freund von mir von der Botschaft getroffen. Er sagte mir, daß er die inhaltlose Langeweile seines Lebens überwunden habe, und bat mich, auch Jesus als mei­nen Herrn anzunehmen. Es folgten Streitgespräche, die zu nichts führten. Ich wollte ihn überzeugen, daß er einer Selbst­täuschung zum Opfer gefallen sei. Aber die Tatsache blieb, sein Leben hatte sich verändert.

Weil mein Freund eine schwache Lunge hatte, bekam er ei­nes Tages einen Blutsturz. An seinem Sterbebett fing der Dornbusch an zu brennen. Ich stellte ihm die Frage: „Ri­chard, ist Christus nun auch noch deine Wirklichkeit?“ Er schaute mich an mit Augen, die durch und durch gingen, dann legte er die Hände zusammen und betete: 

„Ich danke dir, du wahre Sonne, 
daß mir dein Glanz hat Licht gebracht. 
Ich danke dir, du Himmelswonne, 
daß du mich froh und frei ge­macht.“
Es erging mir wie dem Saulus bei der Steinigung des Stephanus. Meine Vorbehalte waren an dem Abend zerbrochen. Ich ging nicht in mein Schlafzimmer, sondern in den dunklen Keller. Ich kniete dort nieder und betete zum erstenmal echt: „Herr, ich habe erkannt, daß du lebst, zerbrich mir alles, nimm mir den Widerstand, schenke mir eine Begeg­nung; laß mich dein Bote und Zeuge werden.“ Dies Gebet hat der Herr erhört. Am Sterbebett meines Freundes und im dunklen Keller fing der Dornbusch an zu brennen.
Meine Mutter
Nun ist es sicherlich so, daß Gott auf geschichtlichem Wege mit dieser Welt und mit unserm Leben zu seinem ewigen Ziele kommt. Es wäre auch sicherlich falsch, wenn wir in die Ereig­nisse unseres Lebens Zeichen und Wunder hineinsuchen wür­den, die für den Glauben zu Unnüchternheit führen. Den­noch gibt es Begebenheiten, die wie der brennende Dorn­busch bei Mose uns Anstoß zur ewigen Bewegung werden können. Ein solches Ereignis war in meinem Leben die Krankheit meiner Mutter.

Ich war ihr Sorgenkind, und sie hat mich über alles geliebt. Ohne ihre betenden Hände kann ich ebensowenig wie Augu­stinus bei seiner Mutter mir den Umbruch meines Lebens er­klären. Sie hat mich wesentlich dadurch erreicht, daß sie mei­nen Urzweifel mit erlitten hat. Die reine Lehre als Tradition schenkt noch kein Glaubensleben. Meine Mutter wurde krank, und bald wurde uns gewiß, die Krankheit war unheil­bar. Als ich ungewollt erfuhr, daß kein Mensch helfen konnte, wurde diese Not zum Gebet. Was habe ich gebetet?: „Herr, du weißt, daß an meinem Leben nichts auf dieser Erde ist; Herr, du weißt, daß ich am wenigsten Pastor werden möchte, aber wenn du, Herr Jesus, ein Wort sprichst, kann meine Mut­ter gesund werden. Ich will dir geloben, daß ich dann Pastor werde.“ Und es geschah also, Mutter wurde gesund. Der Dornbusch fing wieder an zu brennen.

Es erging mir aber wie Jona, der nach Ninive sollte und nach Tharsis fuhr. Wenn Gott nicht die Korrektur unseres Le­bens würde, kämen wir nicht zum Zuge. Als Oberinspektor auf dem Rittergut Turow in Pommern bedurfte es wie bei Bo- delschwingh eines besonderen Anstoßes, um endlich mein Gelübde einzulösen. Es gibt eine Unruhe, die kommt erst zur Ruhe, wenn man gehorsam wird.

Wenn ich mein Leben überschaue, könnte ich noch viele Wegzeichen finden, wo der Dornbusch so brannte, daß ich Gottes Stimme wußte. Das Übergeschichtliche sucht Begeg­nung im Geschichtlichen, Gott handelt in allem Geschehen. Damit das Glaubenswerk Krelingen wurde und ich mich end­lich als Pfarrer von Ahlden pensionieren ließ, um damit meine eigentliche Lebensaufgabe zu erfüllen, bedurfte es noch eines besonderen Ereignisses. Weil ich versuchte, neben dem Ge­meindepfarramt meine Zeit möglichst evangelistisch auszu­kaufen, geschah es, daß meine Frau und ich in einer Nacht von einer Evangelisation in Eschwege heimfuhren. Kurz vor dem Ziel durchbrach ein Laster den Mittelstreifen der Autobahn. Unser Wagen war zertrümmert. Drei Stunden lagen wir unter dem Wrack. Die Verletzungen waren bei uns beiden so, daß niemand an unsere Genesung glaubte. Der Chefarzt, den ich kürzlich beerdigt habe, berichtete mir später, daß sein erster Gedanke an jedem Morgen gewesen sei: Lebt der Pastor noch? Beide Beine gebrochen, das eine gesplittert, machten den Ruhestand nach dem Wunder der Genesung notwendig. Trotzdem hing ich so an meiner Gemeinde, daß ich wenig­stens den Versuch machte, mit Krücken und Stöcken noch meinen Dienst zu tun. Mein Freund, Dekan Friedrich Hauss, schrieb mir damals: „Du warst in Gefahr, durch die vielen Großevangelisationen Starallüren zu bekommen. Ich habe viel für dich gebetet. Gott hat das Gebet erhört, er ist dir ge­kommen wie ein Löwe und hat dir all deine Gebeine zerbro­chen. Er hat das getan, nicht um dich matt zu setzen, sondern um deinen Dienst noch fruchtbarer zu machen.“ Dieser be­gnadete Zeuge hat recht behalten.

Es gehört zu den demütigenden Dingen in meiner Lebensfüh­rung, daß es Gott gefallen hat, mir noch je und dann Korrek­turen zu geben, die mir, wie Bismark es ausdrückt, es schen­ken, daß ich das Rauschen seines Mantels hören konnte. Sie werden sich in jedem Christenleben, das in völliger Hingabe steht, finden lassen. Es ist vielleicht besser, wenn die Gefahr besteht, daß dadurch unser menschlicher Name verklärt wer-
den könnte oder der Feind sie auf das eigene Konto umbu­chen will, sie nicht zu berichten. Wenn Gott spricht, wird die Geschichtserfüllung immer auch Geschichtsenthüllung. Wenn Gott zum Zuge kommt, ist Abstand geboten.

Ein Mädchenkreis aus Bayern war einmal bei uns in der Freizeit. Wir hatten eine gesegnete Bibelarbeit. Wir kamen darauf, daß Zeichen und Wunder in unserm Leben wohl den Glauben anregen und zum Gehorsam verpflichten, aber nicht den Glauben schenken können. Ich fragte ein Mädchen, wenn ihm heute nacht die Mutter Maria erschienen wäre, was dann wohl heute morgen die Folge sein würde. Nach einigem Zö­gern sagte es unvermittelt: „Ich würde denken, daß ich vor den anderen bevorzugt sei.“ Wie abgrundtief ist doch unser Verderben, daß in jeder Begegnung mit dem Heiligen auch bei uns das Unheilige geweckt werden kann. Wer da nicht weiß, was Martin Luther wußte, daß das Kreuz Christi uns zu unserm eigenen Feind gemacht hat, läuft Gefahr, dem from­men Selbstbezug zu erliegen.

Vor einiger Zeit sprach ich nach einem Dienst in einer Er­weckungsgemeinde eine alte Frau an. Ich fragte sie im Ge­spräch nach ihrem Alter. Sie sagte mir, daß sie über neunzig sei. Ich meinte dann, als ich auf ihre zerfurchten Hände sah, dann brauche sie nicht mehr zu arbeiten und hätte die Ruhe wohl verdient. Wie erstaunt war ich, als sie antwortete: „Da sind Sie im Irrtum, die enteilende Zeit fordert immer mehr Arbeit. Feiertagsruhe gibt es im Himmel, aber nicht hier.“ Als ich fragte, wie sie das meine, sagte sie: „Wenn ich mor­gens aufstehe, lese ich meine Bibel, trinke eine gute Tasse Kaffee zum Frühstück, dann setze ich mich in meinen Ohren­sessel, und die Arbeit beginnt. Ich fange an zu beten, und der erste, für den ich bete, sind Sie. Als Sie mit Ihrer Frau Vorjah­ren das Unglück auf der Autobahn hatten, wurde mir bewußt, daß der Feind die Planung Gottes, die er mit Ihrem Leben hat, durchkreuzen wollte. Mir wurde der Auftrag, jeden Tag für Sie zu beten. Ich habe ihn bis heute erfüllt. Der nächste, für den ich bete, ist unser Pastor. Er hat noch nicht die ganze Mit­te unter dem Kreuz, aber er wird sie finden, denn ich bete um ihn. Der dritte ist unser Gemeinschaftsprediger, der braucht viel Vollmacht für seinen Dienst und schleppt die Nöte der an­deren mit. Ohne Gebet kann er die Freudigkeit verlieren. Nun beginne ich bei der ersten Straße im Dorf und bete für je­des Haus. Für die Häuser, die noch ferne sind vom Reich Got­tes, bete ich doppelt so lange. Ich muß mich beeilen, wenn ich am Abend mit dem ganzen Dorf fertig sein will. Das ist meine Arbeit, und ich bitte den Herrn Jesus, daß sie Frucht wird.“ Es ist so wichtig, daß das heilige Feuer, der brennende Dornbusch, nicht erlischt. Von meinem Heimatdorf wird be­richtet, daß in den Tagen der Erweckung einst ein Bauer ins Pfarrhaus gestürmt kam und zum Pfarrer aufgeregt sagte: „Herr Pastor, das ganze Dorf brennt.“ Der Pastor stürzte hin­aus, nirgendwo war ein Feuerschein, aber auf allen Höfen, in allen Häusern, ja in den Viehställen und auf der Straße wur­den die Lieder der Erweckung gesungen. Die beiden schwie­gen eine Weile, dann nahm der Pastor den Bauern in den Arm und sagte bewegt: „Ja, Gott sei Dank, das ganze Dorf brennt. Den Brand kann man nicht sehen, sondern hören.“

Laßt uns beten, daß wie einst bei Mose der Dornbusch wie­der brennt. Laßt uns beten, daß wir in unserer Kirche in voll­mächtiger Verkündigung wieder erfahren: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Der Dornbusch, der einst bei Mose zu brennen anfing, wurde in der Gottesfinsternis Jesu am Kreuz der heilige Brand für die ganze Welt.

„Jesu Name soll erstrahlen
weithin über Land und Meer.
Trost und Hoffnung gibt er allen, 


rühmt ihn laut zu seiner Ehr!“


Heinrich Kemner

 

 


 

 

 
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