Luis und Sebastian waren Zwillinge. Sie wuchsen vor vielen, vielen Jahren in einem kleinen weißen Haus auf, das außerhalb der Mauern eines spanischen Bergstädtchens lag. Ihre Eltern waren gestorben, hatten ihnen aber ein bescheidenes Erbe hinterlassen. So konnten die Jungen weiter in ihrem alten Haus wohnen. Sie glichen sich so sehr, dass keiner sie auseinander halten konnte. Im Laufe der Jahre entwickelten sich die beiden Jungen allerdings sehr unterschiedlich. Sebastian erlernte einen guten Beruf. Er war freundlich, zuverlässig und fleißig. Alle Leute hatten ihn gern. Luis dagegen war faul und hatte keine Lust zu arbeiten. Er wollte nur sein Vergnügen haben und verbrachte jeden Abend beim Spiel in der Schenke. Oft kam er erst am frühen Morgen zurück. Vergeblich bat Sebastian ihn, sich von seinen schlechten Gefährten zu trennen und ein neues Leben anzufangen. Luis lachte ihn nur aus.
Es war spät in einer Nacht. Der Vollmond beleuchtete die weißen Mauern der Stadt. Sebastian saß, von einer seltsamen Unruhe getrieben, am Fenster. Seine Augen wanderten immer wieder das helle Band der Straße entlang, das zum Stadttor führte. Luis war wie gewöhnlich noch nicht heim gekehrt. Sebastian erblickte die rennende Gestalt, noch bevor er ihre Schritte hörte, und eilte zur Tür. Luis war allein und stürzte an ihm vorbei ins Haus. Im Licht der Lampe sah Sebastian sein schneeweißes Gesicht und seine zerrissenen und blutgetränkten Kleider. Luis zitterte so, dass er kaum sprechen konnte.
„Oh, Sebastian!“ stieß er hervor. „Versteck mich! Sie sind hinter mir her, und dann ist es mit mir zu Ende.“
„Was soll das heißen?“ fragte Sebastian und rannte zum Fenster. Tatsächlich, da kam eine Gruppe von Leuten aus dem Stadttor. Sie rannten ... kamen auf ihr Haus zu.
„Wir haben zu viel getrunken...“ jammerte Luis. „Es gab Streit ... Ich wollte nicht ... Er kippte nach hinten und war tot. Oh, Sebastian, versteck mich! Was soll ich denn bloß machen?“
Sebastian überlegte nicht lange. Schon riss er sich seine Kleider vom Körper. Er hatte keinen Augenblick zu verlieren. „Hier, zieh diese Sachen an und gib mir deine!“ befahl er. „Mach schon! Hör auf zu jammern! Und jetzt hinaus mit dir – benutze die Hintertür und verschwinde im Bergland! Lass dich nicht so bald wieder hier sehen...! Nun lauf schon, Bruder, lauf!“
Es war höchste Zeit. Schon waren an der Haustür laute Rufe zu vernehmen. Einen Augenblick später stürzte der Nachtwächter der Stadt herein, gefolgt von einer aufgeregten Menschenschar. Vor Sebastian hielten sie an. Sebastian stand ganz still da. Er atmete schnell, sein Haar hatte er in Unordnung gebracht und sich Gesicht und Hände schmutzig gemacht. Er trug den blutbefleckten Mantel seines Bruders. Sie fesselten ihm die Hände und er leistete keinen Widerstand. Schweigend ließ er sich zum Gefängnis der Stadt führen. Ein paar Tage später gab es eine Gerichtsverhandlung und er wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Fast alle Männer der Stadt drängten sich in den Gerichtssaal, um den gefangenen Mann zu sehen. Als die Verhandlung vorüber war und die Zuschauer in den Schenken saßen und den Fall diskutierten, da hieß es immer wieder: „Wie ruhig er da stand! Er sagte kein Wort zu seiner Verteidigung, bat nicht um Gnade, schien keine Angst zu haben. `Ihr habt selbst das Blut auf meinem Mantel gesehen´, sagte er. `Ich habe nichts zu meiner Entschuldigung vor zu bringen´.“
„Aber wo war eigentlich Sebastian, sein Bruder?“ fragten andere. „Warum war er nicht bei der Verhandlung? Seit jener Nacht ist er auch nicht mehr zur Arbeit erschienen. Schämt er sich seines Bruders so sehr, dass er ihn allein sterben lässt?“
Niemand wusste eine Antwort darauf, und wenige Tage später wurde Sebastian hingerichtet. Ein Leben für ein Leben.
Luis lebte viele Wochen lang zurück gezogen in einem kleinen Dorf hoch in den Bergen. Er tauschte seine Stadtkleider gegen ländliche Kleidung ein und arbeitete während der ganzen Erntezeit bei einem Bauern. Zuerst wagte er sich kaum aus seiner Unterkunft hinaus; Nacht für Nacht wachte er zitternd auf, weil er wieder von jener schrecklichen Mordnacht und von seinen Verfolgern geträumt hatte. Aber allmählich wurde er ruhiger. Er bereute bitter, dass er seinen Kameraden getötet hatte und sehnte sich danach, seinen Bruder wieder zu sehen. „Vielleicht haben sie inzwischen aufgehört, nach mir zu suchen“, dachte er. „Am nächsten Markttag will ich verkleidet in die Stadt hinunter gehen und versuchen, mit meinem Bruder zu sprechen.“
Er hatte sich einen Bart wachsen lassen und sich sein Gesicht dunkel gefärbt, so dass niemand ihn erkennen konnte. In seiner bäuerlichen Kleidung schloss er sich anderen an, die mit ihren Waren zum Markt zogen. Inmitten des Marktgetümmels versuchte er heraus zu finden, was inzwischen in der Stadt geschehen war. Vorsichtig brachte er das Gespräch auch auf den Mordfall, der sich vor einiger Zeit ereignet hatte.
„Ich habe gehört, dass der Mörder, dieser elende Kerl, entkommen ist“, sagte er. „Sucht man immer noch nach ihm? Oder hat man es aufgegeben?“
„Aufgegeben?“ fragte sein Gesprächspartner und blickte ihn überrascht an. „Unsere Polizei gibt nie auf! Sie haben ihn noch am selben Tag erwischt, ihm in der selben Woche den Prozess gemacht und zwei Tage später ist er hingerichtet worden. Die Gerechtigkeit hat gesiegt! Seltsam ist nur eines bei der ganzen Geschichte: Der Mörder hatte einen Bruder, und der ist am selben Tag verschwunden und seither nie wieder aufgetaucht. Manche sagen ...“
Aber Luis hörte nicht mehr, was manche sagten. Er stieß einen verzweifelten Schrei aus und rannte vom Marktplatz weg. halb blind von Tränen gelang es ihm irgendwie, das Gerichtsgebäude zu erreichen. Fast mit Gewalt verschaffte er sich Eintritt. Als der Richter erschien, um nachzusehen, was da für ein Lärm herrschte, fiel Luis ihm zu Füßen.
„Sie haben einen Unschuldigen hingerichtet!“ rief er immer wieder. „Ich bin´s gewesen, nicht mein Bruder. Lassen Sie mich jetzt auch hinrichten, denn wie könnte ich noch weiter leben?“
Der Richter zog sich zurück. Er führte einige lange Gespräche und kehrte dann zurück.
„Das Gesetz fordert ein Leben für ein Leben“, verkündete er. „Wenn dein Bruder unschuldig war, wie sollten wir das wissen? Sein Mantel war blutgetränkt und er brachte nichts zu seiner Verteidigung vor. Der Fall ist abgeschlossen. Geh, halte deinen Mund und sieh zu, dass du nicht wieder das Gesetz übertrittst.“
Als Luis sich abwandte, hielt ihn der Richter noch einmal zurück. „Einen Augenblick noch!“ sagte er plötzlich. „Bist du der einzige Bruder des Hingerichteten?“
„Ja, ja. Es gibt keinen anderen.“
„Dann habe ich einen Brief für dich. Der Gefangene hat ihn in großer Eile geschrieben und ihn mir anvertraut, bevor er gestorben ist. Ich hole ihn.“
Bald darauf saß Luis in dem alten Haus, in dem er und sein Bruder in der Kindheit und Jugend so viele schöne Stunden miteinander verlebt hatten. Er weinte und weinte. Die Sonne ging schon unter, als er endlich den Brief öffnete. Er war sehr kurz und Luis las ihn wieder und wieder, bis es zu dunkel war, um noch etwas zu erkennen und er ihn auswendig kannte.
„Mein lieber Bruder“, hieß es in dem Brief. „Heute morgen werde ich aus freiem Willen in Deinem blutbefleckten Mantel sterben. Nun beschwöre ich Dich, in meinem sauberen Mantel zu leben. Sei versichert, dass ich Dich liebe. Gott segne Dich. Sebastian.“
Luis begriff, was sein Bruder damit gemeint hatte. Der Taugenichts, der nur für sich selbst gelebt, ständig Streit gesucht und am Ende gar gemordet hatte, dieser Taugenichts sollte als tot gelten. Der Mann aber, der geliebt und gelitten und sich geopfert hatte, der sollte weiter leben. Ja, so sollte es sein. Luis saß da und dachte nach, bis die Morgendämmerung das Zimmer zu erhellen begann.
Dann erhob er sich und warf seine schmutzige Verkleidung ab. Er wusch sich und legte saubere Kleider an, wie Sebastian es getan hatte, und ging in den neuen Tag hinein.
Patricia St. John (aus: „So groß ist Gott“, BLB-Verlag)